Zur Klarstellung der uns beschäftigenden Probleme sei zunächst eine kurze historische Übersicht über die Systematik der Avena-Arten der Untergattung Crithe Rouy1) (= sect. Euavena Griseb. 1844) gegeben. Lin ne und seine Zeitgenossen und unmittelbaren Nachfolger führten in ihren Werken die uns hier interessierenden Wildhafer(A. barbata Pott, A. fatua L., A. sterilis L.) und Saathafer- Arten (A. strigosa Schreb., A. brevis Roth, A. sativa L,, A. orientalis Schreb., A. nuda L., A. byzantina C. Koch) in bunter Reihe durcheinander auf, ohne sich über phylogenetische Beziehungen bezw. nähere Verwandtschaft zwischen einzelnen dieser Sippen Rechenschaft zu geben. Im Jahre 1854 unternahmen die französischen Botaniker Cosson und Durieu de Maisonneuve2) den ersten Versuch einer natürlichen Gruppierung der genannten Arten, indem sie sie auf 2 Subsektionen ihrer Sektion Avenatypm (= subgen. Crithe) verteilten; als Einteilungsprinzip dienten dabei die Gliederung der Blüten auf der Ährchenachse und die damit zusammenhängende schiefe bezw. wagrechte Insertion des Blütengrundes: Subsect. I. Sativae (= Saathafer-Arten): Blüten auf der Ährchenspindel nicht oder nur ganz undeutlich gegliedert, bei der Reife nur durch gewaltsamen Querbruch der Achse (beim Dreschen) sich ablösend, die Bruchfläche (an der Stelle einer rudimentären Gliederung) ziemlich klein, fast wagrecht, mit unregelmässig gezackten Rändern; Blüten kahl, öfter hellfarbig; Grannen oft verkümmert bis fehlend; Subsect. II. Agrestes (= Wildhafer-Arten): Blüten (mindestens die unterste eines jeden Ährchens) auf der Achse deutlich gegliedert, bei der Reife sich leicht freiwillig ablösend, mit grösserer, schief gestellter, schalenförmig vertiefter, glatt und wulstig umrandeter Abgliederungsfläche; Blüten meist rauhhaarig, öfter dunkel gefärbt; Grannen kräftig, gekniet und im untern Teil korkzieherartig gedreht. Damit war eine praktisch-klassifikatorische Einteilung der Untergattung Crithe gegeben, nach der sich die bekannten und allenfalls noch neu zu entdeckenden Vertreter leicht in 21) Abteilungen bringen Hessen, und die mithin den Ansprüchen der ältern, rein klassifikatorisch orientierten Systematik genügte, umso mehr, da die beiden Gruppen auch vom biologisch-okönomischen Gesichtspunkt verschieden sind: die Sativae mit ihren festsitzenden Blüten eignen sich als Getreidearten, die Agrestes mit ihren leicht freiwillig ausfallenden Blüten sind (teilweise schwer zu bekämpfende) Unkräuter. Gleichwohl muss vom Standpunkte einer natürlichen, die mutmassliche Phylogenie zum Ausdruck bringenden Systematik diese Einteilung, die bis in die neueste Zeit sich der Anerkennung der Systematiker und Floristen erfreut hat, als verfehlt bezeichnet werden. Schon vom Gesichtspunkte des morphologischen Vergleiches erhoben sich notwendig Bedenken gegen diese Gruppierung. Mehr und mehr fiel auf, dass die 3 Hauptarten der Sativae (A. strigosa, A. sativa und A. byzantina), die nach jener Auffassung unter einander zunächst verwandt sein sollten und sogar von vielen Systematikern zu einer einzigen Art vereinigt wurden, sich auch beim Studium eines reichen Materials in ihren trennenden Merkmalen merkwürdig konstant und (trotz der gleichmässigen Kulturbedingungen und des gelegentlich gemischten Auftretens) scharf geschieden erweisen1), während anderseits immer mehr Zwischenformen von den einzelnen Saathafer-Arten gegen ganz bestimmte Wildhafer-Formen bekannt wurden. So kennen wir heute eine ganze Stufenleiter von Formen, die die beiden auf den ersten Blick so stark verschieden erscheinenden Sippen A. fatua und A. sativa lückenlos verbinden2), so dass eine spezifische Scheidung undurchführbar wird. Über den Wert und die Bedeutung dieser Übergangsformen wird noch zu reden sein; will man sie als Bastarde auffassen, so spricht doch ihre völlige Fruchtbarkeit dafür, dass die Stammarten nicht spezifisch verschieden sind, und es bleibt mindestens höchst merkwürdig, dass sich A. sativa in Haferäckern immer nur mit der nach der alten Auffassung von ihr spezifisch verschiedenen (sogar einer andern Subsection angehörigen) A. fatua kreuzen soll, nie aber mit der bei oberflächlich-morphologischer Betrachtung ihr sehr ähnlichen, nach der frühem Theorie ihr zunächst verwandten A. strigosa, die von manchen Forschern geradezu als ihre wilde Stammform betrachtet wurde. Es ist das Verdienst des deutschen Botanikers C. Haussknecht, vom Jahre 1885 an in einer Reihe von Mitteilungen1) auf die nahen verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen A. sativa und A. fatua, welch letztere wir ' heute unbedenklich als die eigentliche wilde Stammform der erstem betrachten, nachdrücklich hingewiesen und damit auch die Unhaltbarkeit der Gruppen Sativae und Agrestes vom Standpunkte einer natürlichen Systematik dargetan zu haben, umso mehr, als es Haussknecht gelang, als erster Forscher auch bei anderen Wildhafer-Arten Übergänge zum SatiVa-Typus festzustellen. Nachdem der algerische Kulturpflanzen-Foi scher Trabut in den Jahren 1909 bis 19112) gleichfalls auf die polyphyletische Entstehung der „Sativae” hingewiesen und namentlich als erster die Kulturrasse der A. sterilis (A. byzantina, von Trabut als A. algeriensis bezeichnet) scharf von A. sativa im engem Sinne (der Kulturrasse von A. fatua) unterschieden hatte, habe ich selbst 19113) auf Grundlage der Haussknecht’schen Prinzipien ein vollständiges System der Kulturhafer-Arten und der zugehörigen Wildformen unter Berücksichtigung der damals bekannten Übergangsformen aufgestellt.